Was ist Tasawwuf (Sufismus)?
Tasawwuf ist eine Methode der Charaktererziehung, die auf dem Leben und den Lehren des Gesandten
Allāhs beruht – möge der All-Erhabene ihn segnen und ihm Frieden schenken!
Tasawwuf besteht vor allem darin, sein Gesicht in Liebe und Respekt Allāh und Seinem Gesandten
zuzuwenden. Die Gottesfreunde, die Allāh und Seinem Gesandten – Segen und Friede seien auf ihm –
als einzigem Gegenstand ihrer Liebe das Innerste ihrer Herzen gewidmet haben, sind zu Freunden
der gesamten Menschheit geworden.
Enge Verbundenheit und Suhba [Zusammensein] mit den
Rechtschaffenen sind die Mittel der Gläubigen, um selbst rechtschaffen zu werden. Jene, die über
eine hohe Stufe spiritueller Energie verfügen, sind in der Lage, diese Energie an andere
weiterzugeben. Nachdem es ihnen gelungen ist, ihre eigenen Seelen von den Untugenden und Lastern
des Nafs zu befreien, können sie diesen Zustand spiritueller Reinheit auf jene, die sich ihrer
Gegenwart befinden, übertragen. Mit solchen Menschen eng verbunden zu sein, verwandelt einen
Gottesdiener in ein Wesen, aus dessen Worten und Handlungen die gesamte Schöpfung Nutzen ziehen
kann.

Die Liebe verbindet zwei Herzen mit einem Band der Liebe; und im Tasawwuf verbindet ein solches
Band spiritueller Liebe den Schüler [murīd] mit seinem Meister [scheikh]. Wenn der Murīd seinen
Scheikh liebt und ihn respektiert, imitiert er dessen Handlungen in jeder Hinsicht, wodurch das
Verhalten des Schülers sich vervollkommnet. Deshalb sollten wir als Muslime der Methode der
Liebe Vorrang vor allen anderen Methoden einräumen. Die Grundlage islamischen Charakters besteht
darin, Allāh, dem Erhabenen, in Aufrichtigkeit und Liebe zu dienen. Der Liebesbeweis und der
Beleg unserer Aufrichtigkeit finden sich im Gottesdienst und im Dienst für Seine Schöpfung. Und
mit Hilfe von Liebe sind auch die schwierigsten Aufgaben leicht und auf höchst befriedigende
Weise zu lösen.
Die Größe eines Dienstes bemisst sich an der Größe des Opfers, das man bei dessen Ausführung auf
sich nimmt. Aufrichtiger Dienst ist ein Hinweis auf spirituelle Vervollkommnung, und die Herzen
jener Menschen, die diese erreichen, werden zu Orten göttlicher Manifestationen [tajalliyyāt].
Je mehr der Mensch sich dabei Allāh nähert, desto empfänglicher wird sein Herz für die
Erfahrungen der spirituellen Wirklichkeit. Auf der anderen Seite verliert der Mensch, je mehr er
von seinem Nafs eingenommen ist, um so mehr von seiner Menschlichkeit.

Zu den Namen Allāhs, des Erhabenen, zählen al-Jamīl [der Inbegriff aller Schönheit] und al-Jalīl
[der Majestätische], doch Seine beiden Namen al-Rahmān [der All-Gnädige] und al-Rahīm [der
All-Barmherzige] werden im Qur’ān häufiger als all Seine anderen Namen erwähnt. Deshalb sollte
ein gläubiger Muslim versuchen, in Nachahmung seines erhabenen Herrn, Gnade und Barmherzigkeit
zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften zu machen.
Die Ungerechtigkeiten dieser Welt sind, vor allem anderen, Folgen eines Mangels an
Barmherzigkeit und Liebe. Wer unfähig ist, zu lieben, wird leicht zu einem Despoten oder
Tyrannen, der Furcht und Hass benutzt, um andere zu kontrollieren. Dabei wird übersehen, dass es
kein Herz gibt, das nicht mit Liebe einzufangen wäre! Die Sonne kann sich nicht weigern, Licht
und Wärme auszustrahlen. Ebenso ist es rechtschaffenen Seelen unmöglich, anderen Geschöpfen
nicht in Liebe und Barmherzigkeit zu begegnen.
Al-Hallāj, der einen besonderen Platz in den Herzen derer einnimmt, die Allāh lieben, betete für
jene, die ihn steinigten, mit den Worten: „O mein Herr, vergib jenen, die mich steinigen, noch
bevor Du mir vergibst!“
Wenn wir unsere spirituelle Stufe erkennen wollen, sollten wir kontinuierlich unsere Handlungen
und Empfindungen analysieren. Vor allem die unberechtigten Ansprüche unseres Egos müssen unter
Kontrolle gebracht werden. Andernfalls geraten wir allzu leicht in einen Zustand, welcher dem
des Iblīs entspricht, der die göttliche Gunst Allāhs durch seinen Stolz und seine Eitelkeit
verspielte. Er war der Lehrmeister der Engel im Paradies, doch er war unfähig, seine Emotionen
und Begierden zu kontrollieren. Er bildete sich ein, er sei dem Menschen überlegen und wurde
schließlich aufgrund seines Stolzes verflucht.

Ein Vergleich von Rumi
Meister Jalāl al-Dīn Rūmī vergleicht die Laster und schlechten Charakterzüge des Menschen mit den Dornen eines Rosenstrauchs und mahnt, unser Wesen solle einer süß duftenden Rose und nicht stechenden Dornen gleichen. Auch wenn uns im Garten dieser Welt die Dornen Schaden zufügen, dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Seelen so werden wie diese! Wir sollten uns vielmehr bemühen, die wilde, unbebaute Erde in einen Garten voller duftender Rosen zu verwandeln.